Simon #77 stellt die Geschichte einer ungewöhnlichen Kreatur beim 24 Hour Cargo Bike Race Berlin vor.
4:00 Uhr morgens: »So ne Kacke, warum tue ich mir das eigentlich an? Warum tun wir die Dinge, die wir tun und was treibt uns an?«
Als ich im Dezember vor dem ersten Lockdown beschloss ein zweites Lastenrad zu bauen, brauchte es eine neue Deadline, ein Ziel, eine Marke, irgendetwas, das genug Antrieb gab, um noch einmal so fokussiert zu arbeiten. Das erste Bike war ein Semesterprojekt, hatte also eine ganz klare Deadline, die auch mit der Ausleihe verbunden war. Denn dieses erste Lastenrad, unser Lastenkalle wurde zu dem einzigen Zweck gebaut, das kostenlose Verleihprogramm des ADFC zu unterstützen und die Verkehrswende zu pushen. Der Plan ging auf, unser Kalle war eines der ersten 15 Räder, des inzwischen, mit über 170 Lastenrädern in Berlin und Umland durch die Decke gegangen Programms, dass ein Paradebeispiel für die Commons-Bewegung geworden ist.
Doch so umweltfreundlich und nützlich Fahrräder und vor allem Lastenräder auch sind. Ihre Herstellung ist energieintensiv und das Endprodukt teuer. So kam die Idee auf, ein Lastenrad zu bauen, das nicht nur den Kreislauf Ansprüchen des »Cradle2Cradle« Konzepts genügt, sondern seinen CO₂-Fußabdruck durch den Vollholzrahmen auch massiv reduziert. Zudem würde der modulare Aufbau eine individuelle Anpassung ermöglichen, während der absurd niedrige Preis und die ausschließlich aus dem Baumarkt gekauften Teile, zwei weitere Schlüsselfaktoren für das niederschwellige Reproduzieren wären, sobald die Pläne als Open-Source-Hardware online zur Verfügung ständen.
Kritiker gibt es immer viele und Leute, die nur labern noch mehr. Aber die, die mit dir dann da stehen und nicht nur sagen »geile Idee!«, sondern aktiv daran arbeiten, die kannst du meist an einer Hand abzählen. Diese Leute hatte ich schon und sie hatten Zeit und Bock auf ein neues Projekt. Zum Schrauben kommt man gerne zusammen, aber damit auch was bei rumkommt und nicht nur Bier getrunken wird, braucht es den nötigen Drive. Was gäbe es da Besseres als ein Rennen?
Die Arbeit für einen Prüfungstermin oder für einen Kunden fertigzustellen erzeugt jeweils unterschiedliche Arten von Motivations- aber auch Stressleveln. Und im Endeffekt kann Stress ein sehr starker Motivator sein. Aber auf ein Rennen hinzuarbeiten, bei dem es nichts zu gewinnen gibt und es einzig und allein darum geht sich mit anderen zu messen, das erzeugt einen einzigartigen Flow.
Eine Mischung aus kreativem Wahnsinn und schriller Begeisterung. Laut dröhnt die werbefreie Vietnam-War Playlist aus den Boxen, während mein Hongkonger Freund Shun-Fai und ich zwei Tage lang achthundert Löcher in zwanzig Laufmeter Holzlatten einbohren. Ein paar Wochen später und noch mehrfach umgebaut steht der Rahmen. Das Grundgerüst. Aber ein Fahrrad ist das noch lange nicht. Immer wieder die Abwägung: ist das modular, kompostierbar, leicht nachzubauen oder müssen wir hier funktional bedingt Abstriche machen?
Der Bauprozess:
Ein Lockdown Projekt könnte man es nennen, allerdings hat der Lockdown es eher verzögert als beschleunigt. Am Anfang haben wir noch gelacht. Am Ende stand ich doch recht oft allein da. Kein Vorwurf, so war einfach die Zeit.
Es ist Mittwochabend vor dem Rennen, laut lachend stehe ich bei Velogut und fachsimpel über Cargobikerace-Strategien während ich mir die letzten Teile besorge. Donnerstag und Freitag liege ich flach, ich habe irgendwas Falsches gegessen. Freitagnacht wird die VR-Bremse montiert. Ca. 100 km bin ich nur mit HR-Bremse gefahren. Jeden Tag eine andere Macke, jeden Tag die Kinderkrankheiten rausgeschraubt.
24 Hour Cargo Bike Race Berlin:
Um 12 Uhr mittags stehe ich im Motion-Lab. Die Augen hängen mir schon in den Kniekehlen. Ausgemergelt von Donnerstag und Freitag, wenig geschlafen und viel zu früh aufgestanden. Ich schaffe vielleicht zwei Stunden, denke ich. Und das Bike, na ja, schauen wir mal. Ich rechne fest damit, dass es kaputtgeht. Die Frage ist nur wo und wann. Johannes ist mein Teamkollege, aber Jan macht Support. Sein selbstgebautes Elektro BMX Lastenrad, das Versorgungsfahrzeug.
Ich starte mit vier Runden. Johannes macht sechs. Ich will auch sechs machen und nach Vieren fliegt mir die Lenkung auseinander. Mitten auf der Kreuzung. »Komisch, lenkt nicht mehr«, denke ich und übersteuere kurz, um den Fehler zu finden. »Oh oh, lenkt ja wirklich gar nicht mehr.« Ich gucke nach unten, die Lenkstange baumelt abwechselnd in der Luft und schleift am Boden. In dem Moment die VR-Bremse ziehen kann ich übrigens nicht empfehlen. Mit zwei von vier Kanistern, also zehn Kilo Ladung rette ich mich irgendwie über den abgesenkten Bordstein auf den Bürgersteig. Wow nur ein Kratzer am Schienbein.
Erster Anruf Johannes_89: »Du musst mir die Ladung abnehmen.« Zweiter Anruf Jan: »Ich brauche folgende Werkzeuge …«
Danke man du hast mir hier echt den Arsch gerettet. Flexend stehe ich neben dem umgekippten Bike, die anderen Fahrer feuern mich im Vorbeifahren echt noch an, geiles Gefühl! Ja, flexend stehe ich da. Das scheiß Blech ist nämlich gebrochen. So viel zum Holzbike, das da eh nicht hält … Scheiß Metall.
Zwei Stunden und ein Schawarma später geht’s weiter. Kurz geflickt. Zurück ins Hub. Schwachstelle verstärkt und Johannes fragt schon nach dem Wechsel. In jeder Runde gibt es 50 Meter mieses Kopfsteinpflaster. Jede Runde denke ich das die Lenkung dort wieder bricht. Jede Runde hab ich 50 m echt Angst. Es passiert nichts. Ich bekomme eine Stunde Schlaf und Johannes auch. Aber irgendwann bin ich durch, und zwar ziemlich. 4:00 Uhr morgens: »So ne Kacke, warum tue ich mir das eigentlich an?«
Weiteres Tief um 5:00Uhr morgens. Bei der Zieldurchfahrt ruft die Rennleitung: »Noch zehn Stunden!« Noch »ZEHN STUNDEN? WTF!«
„Was wiegt das eigentlich?” fragt mich der Kollege auf dem Lasten-Rennrad. „40″ sage ich „und deins?”, „Nicht ganz 20″ sagt er müde schmunzelnd und ich realisiere, dass wenn er alle vier Kanistern geladen hat, genauso schwer ist wie wenn ich leer fahre.
Nun gerissen haben wir nichts, aber mit dem Bike sind wir auf jeden Fall der auffällige Exot. Anwohner, die irgendwann mitschneiden, dass hier ein Rennen läuft und uns anfeuern und das zunehmend lauter grölende Publikum vor der Neue Republik Reger.
Doch mein Kollege Johannes #89 der wahrscheinlich 2/3 unserer 477 Kilometer gemacht hat, war der eigentliche Held dieses völlig wahnsinnigen Rennens! Ich hätte mir keinen besseren Teamkollegen wünschen können. Als klar wurde, dass wir an die 25 kg der Bullitts nicht herankommen würden, ging es mehr um einen Belastungstest. Und der Szene einmal die eigene Arbeit vorzuführen und zu fachsimpeln. Ein bisschen wie auf der Messe oder dem Freilauf DIY Bike Camp wo sich sehr viel geballtes Fahrradbau Knowhow sammelt.
Irgendwann Richtung 12:00/13:00 Uhr setzt sich Johannes aber in den Kopf, die 90 Runden noch vollzukriegen und ballert wie ein Irrer. Ich lass ihn gerne machen. Am Ende wird’s aber knapp und die 90 drohen zu fallen und die 89 auch, die 88 sind in Gefahr. »Soll ich nochmal?« »Na, wenn de willst!« Ich will nicht, aber machen tue ich es jetzt trotzdem. Nur mit dem KNTHLZ-Cargo geht das leider nicht.
Auf Lizzy, dem grünen Fahrwerk-Bullitt und 15 kg weniger Eigengewicht, fliege ich plötzlich an den Anderen vorbei. Verdutzte Blicke. Ja, mit dem Gewicht ballern kann jeder. Und ein bisschen ausgeruhter bin ich auch. Ich gebe es ja zu. Ich mache die Neunzig noch voll, relativ knapp. Aber herausgefahren hat die Johannes, nicht ich. Diese Scheiß Kanister. Nach der letzten Runde kippe ich mir das Wasser über. Immer wieder fragten mich Leute, was das ist, was wir da herausholen aus den Boxen. »Gewicht!«, rufe ich, »einfach nur Gewicht!«
17:30 Uhr Siegerehrung: Das Lastenrad aus Kanthölzern wird separat erwähnt, cooles Gefühl. Wir stehen nicht drauf, aber das Treppchen ist eigentlich gar nicht so weit entfernt. Also irgendwie … irgendwie wollen wir nochmal!